Archive for Februar 2024

Die Botschaft der Barmherzigkeit

28. Februar 2024

Jesus und Maria im Koran

Die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind; Foto: wikipedia
Maria mit dem Jesuskind in einer persischen Miniatur. Jesus spielt in der islamischen Tradition eine zentrale Rolle. „Der Koran schreibt Jesus Christus, Issa Massih, den höchsten Stellenwert unter den Propheten zu,“ schreibt Aziz Fooladvand. „Neben seiner wundersamen Geburt vollbrachte er selbst Wunder. Issa und seine Mutter werden im Koran als „Zeichen für die Welten“ beschrieben (Sure 21,91). Er wird im Koran an drei Stellen mit dem bemerkenswerten Titel kalimatollah, „Wort Gottes“, bezeichnet. Dieser Titel wird ausschließlich für Jesus verwendet.

Anekdoten über Jesus

Der persisch-islamische Gelehrte, Mystiker und Theologe al-Ghazālī (1066-1111) berichtet die folgende Anekdote: Jesus war mit seinen hawariyoun (Jüngern) unterwegs, als sie am Kadaver eines Hundes vorbeikamen. „Buh!“ riefen die Jünger aus, „was für ein Gestank!“ Da hielt Jesus an, um auf die glänzenden weißen Zähne des Geschöpfs aufmerksam zu machen. Und Jesus schalt seine Jünger und gebot ihnen, nicht schlecht über den armen Hund zu reden und erklärte: „Sagt nichts als Lobenswertes über Gottes Geschöpfe.“
Der Wanderprediger Jesus plädierte in seinem Wirkungsbereich im Römischen Reich für gewaltfreie Kommunikation, für eine Verständigung zwischen Menschen, die auf tiefer Liebe und Barmherzigkeit basiert. Selbst seine Peiniger schließt er in das Konzept der Barmherzigkeit mit ein: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34).

Exklusivität und Terror jedoch entstehen durch Unwissenheit sowie sozialen und politischen Analphabetismus auf Grundlage einer hasserfüllten Geisteshaltung.

Jesus Christus galt nicht nur als ein Weiser, der mit den Menschen spricht, sondern vielmehr als Handelnder, der Gedanken, Bewusstsein, Planung und Zielsetzung in seine Kommunikation einbezog. Diese Art der Kommunikation wird als soziales Handeln verstanden, welches bestimmte Ziele anstrebt. Genau diese Ziele waren eine Gefahr für die Stabilität des römischen Imperiums. „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Matthäus 22,21).

Barmherzigkeit leben: eine Menschheitsaufgabe

Die Autoritäten werden in Frage gestellt und ihre Macht eingeschränkt, aber gleichzeitig werden sie als „Nächste“ angesehen, die man lieben soll, wie sich selbst. Dies bedeutet eine große Herausforderung, eine Selbstüberwindung, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Dieses Konzept der Barmherzigkeit ist eine Menschheitsaufgabe. Wie weit sind wir heute davon entfernt, es zu leben?

Mit enjil, dem „Evangelium“, das „Rechtleitung und Licht enthält“ (Sure 5,46), bekräftigt Issa (Jesus) „die Wahrheit der vorhandenen Thora“, die zur Erlösung aller Menschen gesandt worden ist. Nach diesem Verständnis verkünden die Propheten dieselbe Gottesbotschaft in verschiedenen historischen Kontexten (Suren 14,4; 16,36).

Jesus Christus, das Licht der Barmherzigkeit, der unsere Herzen heilt und unsere Augen und Ohren öffnet, der uns zum Leben erwecken will, ist traurig über den Zustand der Welt und die Taten der Menschen. Er hat uns Seligkeit versprochen. Den Hungrigen, Durstigen und Unterdrückten dieser Welt hat er in der Bergpredigt Gerechtigkeit versprochen, den Sanftmütigen das „Erdreich“, den „Barmherzigen“ Barmherzigkeit, den Verfolgten das „Himmelreich“ und den Leidtragenden „Trost“. Das Projekt der Befreiung der Menschheit aus ihren persönlichen, sozialen, traditionellen, wirtschaftlichen und politischen Ketten ist immer noch unvollendet.

Aziz Fooladvand unterrichtet Islamische Religion an einer Schule in Bonn. Jesus ist für ihn eine zentrale Figur, die Christentum und Islam verbindet. Jesus hat den Hungrigen, Durstigen und Unterdrückten dieser Welt in der Bergpredigt Gerechtigkeit versprochen. Seine Geburt ist eine Botschaft der Befreiung aller Menschen aus unbewussten und fremdbestimmten Zwängen. Heute allerdings versinkt die Region, in der Jesus gewirkt hat, in Hass und religiöser Intoleranz. „Dieser Hass ist dem Geist des Monotheismus jeder Prägung fremd und mit dem monotheistischen Verständnis des Glaubens nicht in Einklang zu bringen,“ schreibt Fooladvand. „Die Trennlinie in den monotheistischen Lehren verläuft nicht zwischen ‚Gläubigen‘ und ‚Ungläubigen`, sondern zwischen Gewaltherrschern und Tyrannen einerseits und den sozial Schwachen und Unterprivilegierten andererseits, unabhängig von ihrer religiösen, nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit.“

Vergessen wir jedoch seine Mutter nicht. Maria, auf Arabisch Maryam, ist die einzige Frau, die im Koran mehrmals namentlich erwähnt wird. Die 19. Sure mit 98 Versen trägt den Namen Maryam. Jesus Christus wird stets als „Sohn Marias“ benannt. Sie gilt in der islamischen Tradition und insbesondere in der islamisch-mystischen Literatur als die „heilige“ Frau schlechthin. Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich an ihr, Maryam ozar, der „unbefleckten Maria“, die voraussagte: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist“ (Lukas 1, 46-48).

Wir verehren gleichzeitig eine vorbildliche Frau, in der der Geist Gottes (ruhon minho, رُوحٌ مِنْهُ, Sure 4,171) Gestalt annahm, eine Frau, die uns Standhaftigkeit lehrt und die für die Menschheit zum Symbol der Tugendhaftigkeit wurde. Sie ging zuversichtlich, trotz der ungeheuren Prüfungen, den Weg, den Gott ihr anbot und sie zeigte ihre Treue.

Hass und religiöse Intoleranz verfälschen heute die Botschaft Jesus

Die Region, in der „der Mensch gewordene Gott“ vor 2000 Jahren dem mächtigen Römischen Reich die Stirn bot, wo er die Botschaft der Barmherzigkeit und Liebe verkündete und in ihren Gassen und Häusern die Menschen „heilte“, den „Blinden die Augen öffnete“, die „Toten“ zum Leben erweckte und sich für diese Botschaft opferte, versinkt heute in Hass und religiöser Intoleranz.

Dieser Hass ist dem Geist des Monotheismus jeder Prägung fremd und mit dem monotheistischen Verständnis des Glaubens nicht in Einklang zu bringen. Die Trennlinie in den monotheistischen Lehren verläuft nicht zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“, sondern zwischen Gewaltherrschern und Tyrannen einerseits und den sozial Schwachen und Unterprivilegierten andererseits, unabhängig von ihrer religiösen, nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit.

Im koranischen Verständnis verläuft also die Trennlinie zwischen den Menschen, die Pluralität und Diversität bejahen einerseits und den Menschen die Exklusivität fordern und einen demokratischen Geist ablehnen.

Der Monotheismus lehnt jegliche Bevormundung, jegliche Verherrlichung von Menschen, Ideen oder Gedanken ab. Das einzig gültige Leitprinzip ist Gott. Gott ist rahma, Barmherzigkeit und Liebe zu den Menschen. Gott hat sich im Koran zur Barmherzigkeit gegenüber den Menschen verpflichtet: „Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. Wenn (demnach) einer von euch in Unwissenheit Böses tut und dann später umkehrt und sich bessert (findet er Gnade). Gott ist barm­herzig und bereit zu vergeben“ (Sure 6,54).

Das arabische Wort rahma ist mit dem Wort rahim verwandt. In seiner Grundbedeutung verweist es im Hebräischen wie im Arabischen auf den Mutterleib, genauer den Mutterschoß. Dadurch gewinnt das Wort Barmherzigkeit eine starke emotionale Konnotation. Mit dem Begriff Mutterschoß werden Wärme, Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit assoziiert. Nur mit dem Licht der Barmherzigkeit gelingt es uns, die Welt friedvoll zu gestalten.

Aziz Fooladvand

© Qantara.de 2022

Aziz Fooladvand ist promovierter Soziologe und Islamwissenschaftler. Er unterrichtet Islamische Religion an einer Schule in Bonn. Als Experte für islamischen Fundamentalismus ist er in der Integrations- und Präventionsarbeit sowie bei der Deradikalisierung von Jugendlichen tätig. Seit mehreren Jahren ist er außerdem aktives Mitglied bei Amnesty International. Seit 2009 im interreligiösen Dialog und als Referent in Schulen, Jugendämtern sowie als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer aktiv.

Gleichberechtigung im Namen des Islam

24. Februar 2024

Pionierin des Islam in Deutschland

 
NACHRUF
Pionierin des Islam in Deutschland
Rabeya Müller

Wie nennt man eine Frau, die nach dem Abitur Ende der 1970er Jahre allein mit ihrem „Muffel“ – einem alten roten Mini – von der Eifel nach Nordafrika reist? Neugierig, mutig? Selbstbewusst, ein bisschen verwegen? Rabeya Müller war alles davon – und noch viel mehr.

Als Rosel Müller wächst sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter bei den Großeltern auf, die von den Nazis drangsaliert worden waren. Sie besucht ein erzkatholisches Gymnasium in Vallendar. Danach bricht sie auf, geht auf die Suche, stellt sich die essenziellen Fragen des Lebens. In einer Zeit, die noch gar nicht so lang vergangen ist, und doch wirkt es so, als wäre es eine andere Epoche. Es ist die Zeit, in der man interessierten Zeitgenossen noch erklären musste, was der Koran ist und wer gemeint ist, wenn von „dem Propheten“ die Rede ist.

In dieser „grauen Vorzeit“ wird Rosel Müller zu einer der wenigen Deutschen, die sich mit der Weltreligion Islam auskennen. Sie lernt die Inhalte dieses Glaubens schätzen. Während die politischen Konflikte um den Islam in Deutschland noch Lichtjahre entfernt zu sein scheinen, nimmt sie ihn – „aus reiner Vernunft“, wie sie später immer sagen wird – in der Londoner Zentralmoschee für sich an, und aus Rosel wird Rabeya Müller.

Rabeya Müller war eine Pionierin des Islams in Deutschland, eine der ersten Imaminnen. Eine Frau, die den Kampf der Geschlechter innerhalb ihrer Religion aufnahm – kompromisslos, resolut, aber immer auch mit rheinischer Leichtigkeit. Sie stellte sich mit Mut, Kraft und Esprit der männlichen Dominanz entgegen. Mit großem Gespür für die inneren Werte ihres Glaubens stand sie im besten feministischen Sinne ihre Frau.

Beim renommierten Professor Abdoldjavad Falaturi an der Uni zu Köln wird Rabeya Müller zur Islamwissenschaftlerin. Sie lebt mit ihrer Familie von nun an zwischen Köln, Indien und Pakistan, studiert islamische Theologie. Ihre gewonnenen und erarbeiteten Erkenntnisse will sie nicht für sich behalten.

Sie gründet das Zentrum für Islamische Frauenforschung und Frauenförderung in Köln (ZIF) mit. Als Leiterin des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik (IPD Köln) bringt sie jungen Menschen und Erwachsenen zeitgemäße Auffassungen von Religion bei, von gegenseitiger Wertschätzung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Mit ihr entsteht eine umfangreiche IPD-Schriftenreihe.

Zu ihren bemerkenswertesten Publikationen gehört eine kleine, aber wegweisende Abhandlung mit dem Titel „Ein einziges Wort und seine große Wirkung“ (2005). Es geht darin um die Koran-Formulierung in Sure 4,34 über Frauen: „… und schlagt sie!“ Mit weiteren Autorinnen zeigt Rabeya Müller die vielen Interpretationsmöglichkeiten eines einzigen Verbs im Arabischen auf, das Männer gemeinhin tatsächlich nur als „schlagen“ wiedergeben wollten. Schlüssig zeigt sie auf, dass es sich dabei um ein falsches, patriarchalisch geleitetes Textverständnis handelt.

Rabeya Müller war authentisch und offen. Sie glaubte an den interreligiösen Dialog. Sie drängte sich nicht in die erste Reihe, sie wurde dorthin geschoben. Sie wollte nicht bloß Stoff für eine Schlagzeile liefern. Ihr ging es um die Sache. Ihr ging es auch um die Menschen – selbstlos und zugewandt.

Unzähligen Verunsicherten und wegen der oft feindlichen Islamdiskurse Verängstigten steht sie bei. Sie verheiratet Musliminnen und Nichtmuslime. Frauen und Männer versammeln sich hinter ihr zum Gebet. Sie stützt Gläubige, die aufgrund ihrer Queerness, ihrer Homosexualität, ihrer Transidentität in schwierigen Fahrwassern sind.

In ihren Schriften, Reden und Seminaren gab Rabeya Müller dem liberalen Islam in Deutschland, aber auch weltweit glaubwürdig Gesicht. Dabei kam sie stets ohne Feindseligkeiten und Abwertung anderer aus. Sie feierte Karneval, ging zu „Kölle singt“ ebenso wie in die Oper. Sie hörte Niedecken und die Stones, jubelte und litt mit dem Effzeh.

In ihrem Leben war Rabeya Müller für viele eine Inspiration, auch für mich. Mit ihr zusammen durfte ich den ersten Koran für Kinder in Deutschland erarbeiten oder „Saphir“, die erste Schulbuchreihe für Islamunterricht an deutschen Schulen. Wir waren gemeinsam an der Gründung der ersten universitären Ausbildungsstätte für Islamlehrer und islamische Theologen beteiligt, engagierten uns gemeinsam gegen Extremismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, und wir gründeten 2010 mit anderen den Liberal-Islamischen Bund.

Diese Woche ist meine geliebte Freundin, Mentorin, Kollegin, Weggefährtin und Vertraute gestorben. Mein Herz blutet. Im Alter von 67 Jahren hat sie den härtesten Kampf ihres Lebens verloren. Ihr Wirken wird bleiben. Rabeya Müller hat sich in der Geschichte des Islams in Deutschland ihren Platz gesichert.

„Inna lillah wa-inna ilyahi radschi´un.“ – „Von Gott kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück.“ Halt die Ohren steif, meine Liebe!

Die Bestattung mit muslimischem Totengebet findet am Donnerstag, 22.02.20023 um 10 Uhr auf dem Südfriedhof in Köln-Zollstock statt.

Unsere Autorin, geboren 1978, ist Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin. Lamya Kaddor hat viele Jahre als Lehrerin in Dinslaken gearbeitet. Seit 2021 gehört sie für die Grünen dem Bundestag an. (jf)aus dem Kölner Stadtanzeiger, dem ich danke.

Pionierin des Islam in Deutschland

23. Februar 2024